Nachruf auf Elena Schmauß
* 12. April 1913 in Leverkusen | † 20. Juli 2019 in München
Nachdem sie lange auf ihren Tod warten musste, konnte unsere Freundin und großzügige Förderin Elena Schmauß uns nun in eine andere Welt vorangehen. Als wir uns bei einer Tagung „Silvio Gesell und Rudolf Steiner“ des „Seminars für freiheitliche Ordnung“ in Bad Boll im Oktober 1989 zum ersten Mal begegneten, hatte Elena Schmauß ihr 75. Lebensjahr bereits überschritten, war aber körperlich und geistig höchst beweglich. Damals lebte sie noch in Rio de Janeiro/Brasilien und konnte nur selten zu Tagungen nach Deutschland kommen. Das änderte sich im Laufe der 1990er Jahre mit ihrer Rückkehr nach Deutschland. Fortan nahm sie mehrfach als „Grande Dame“ in Tagungen teil und erzählte zuweilen auch etwas aus ihrem Leben.
Schon früh verloren sie und ihre fünf älteren Geschwister ihren Vater, so dass ihre Mutter die schwierigen Zeiten des Ersten Weltkriegs und der großen Inflation als Alleinerzieherin bewältigen musste. Auch zwei ihrer drei Brüder starben schon frühzeitig. Eine ihrer älteren Schwestern, die ebenfalls vor einigen Jahren im hohen Alter von 106 Jahren verstarb, nahm sie schon als 13-jähriges Mädchen mit zu Veranstaltungen der damaligen Jugend-, Wandervogel- und Lebensreformbewegung. Mit Begeisterung erzählte Elena Schmauß manchmal, dass sie Silvio Gesell und dem schweizerischen Lebens-reformer Werner Zimmermann 1926 auf einer Jugendtagung in Kassel persönlich begegnet war. Die zahlreichen Schriften von Zimmermann und auch die des katholischen Theologieprofessors Johannes Ude, der sich in Österreich für die Friedensbewegung und später in der Antiatombewegung engagierte, hat sie alle gelesen und sich mehrfach auf den Weg gemacht, wenn Zimmermann und Ude Vorträge in Deutschland hielten.
Nach ihrer Lehre in einem Reformhaus eröffnete Elena Schmauß 1933 als 20-Jährige ein eigenes Reformhaus in Leverkusen, das sie in der NS-Zeit selbstständig betreiben konnte, ohne sich NS-Organisationen wie dem BDM anzuschließen. Eines Tages kaufte der aus München stammende und in Leverkusen bei den Bayer-Werken tätige Chemiker Otto Schmauß in diesem Reformhaus ein und kam mehrmals wieder, weil er annahm, dass Elenas Geburtsname Waldorf etwas mit den anthroposophischen Waldorf-Schulen zu tun haben könnte. Er interessierte sich nämlich für die Waldorf-Pädagogik, für die Ernährungsreform und die Naturheilkunde - und bald auch für die Inhaberin dieses Reformhauses.
Nachdem Otto Schmauß für einige Zeit in die USA gegangen war, kam er nach Leverkusen zurück, denn die Zuneigung der beiden zueinander hatte die Zeit seiner Abwesenheit überdauert. Als der Zweite Weltkrieg begann, brauchte Otto Schmauß nicht Soldat zu werden, weil er in der ‚kriegswichtigen’ Forschung für die Herstellung von synthetischem Kautschuk beschäftigt war. 1941 heirateten die beiden.
Nach dem Krieg konnte Otto Schmauß bei den Bayer-Werken bleiben und da sich seine Hoffnung zerschlug, in die Schweiz gehen und als Chemiker bei der Fa. Weleda in der Nähe von Dornach tätig werden zu können, blieben er und seine Frau Elena in Leverkusen und planten dort ihre Zukunft. 1950 erwarben sie gemäß ihren bodenreformerischen Überzeugungen ein Erbbaugrundstück von der Stadt und erbauten darauf ein eigenes Haus. Während Bayer die Stadt zum Verkauf von Grundstücken drängte, wandten sich besonders zwei Abgeordnete der damaligen geld- und bodenreformisch eingestellten „Radikalsozialen Freiheitspartei“ (der Vorläuferin der „Freisozialen Union“) vehement gegen solche Verkäufe von städtischem Tafelsilber. Diese beiden Abgeordneten im Stadtparlament organisierten auch mehrfach Vortragsreisen von Werner Zimmermann und Johannes Ude durch das Ruhrgebiet, bei denen das Ehepaar Schmauß die Referenten in ihrem Haus beherbergte.
1957 ergab sich eine unerwartete Wende im Leben von Elena und Otto Schmauß. Nachdem sich ihr Kinderwunsch nicht erfüllte und Otto eine andere Beschäftigung in der Bayer-Niederlassung in Brasilien angeboten wurde, verkauften sie ihr Haus in Leverkusen, spendeten einen Teil des Verkaufserlöses für die damals gerade im Bau befindliche „Silvio-Gesell-Tagungsstätte“ zwischen Wuppertal und Neviges und siedelten sich nördlich von Rio de Janeiro in Teresópolis an - nicht weit entfernt von Petrópolis, wo der Schriftsteller Stefan Zweig im Exil gelebt hatte. Otto Schmauß konnte sich fortan ganz der Entwicklung von Gerbstoffen für Leder, Leder- und Textilfarben widmen und seine Versetzung in die von Bayer ebenfalls betriebene Produktion von Insektiziden und Pestiziden vermeiden. Er machte Erfindungen und meldete sie als Patente an. So wurden Otto und Elena Schmauß wohlhabend, gehörten zum gehobenen Bürgertum und verkehrten bald mit Industriellen, Politikern, Ärzten und Künstlern.
Durch einen Artikel im „Journal do Brazil“ wurden Elena und Otto Schmauß auf den brasilianischen Bankier Santiago Fernandes aufmerksam und knüpften mit ihm und seiner Frau eine langjährige enge Freundschaft an. Wie sie bald erfuhren, war Santiago Fernandes als junger Mann Mitglied der brasilianischen Delegation bei der berühmten Konferenz des Völkerbundes 1944 in Bretton Woods / New Hampshire (USA) gewesen und hatte sich dort für den visionären „Bancor-Plan“ ausgesprochen, mit dem der britische Ökonom John Maynard Keynes eine Grundlage für eine gerechte Weltwirtschaftsordnung nach dem Zweiten Weltkrieg schaffen wollte. Fernandes, der auch mit den Geldreformvorschlägen von Silvio Gesell und dessen Konzept einer „Internationalen Valuta-Assoziation“ aus der Zeit unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg bestens vertraut war, hatte in Bretton Woods die große Enttäuschung erlebt, dass Keynes als Verhandlungsführer der britischen Delegation letztlich dem machtpolitisch ausgerichteten Konzept des US-amerikanischen Delegationsleiters Harry Dexter White unterlag, wodurch die Weichen für die Nachkriegsentwicklung der Weltwirtschaft tragischerweise falsch gestellt wurden. 1967 und nochmals 1991 erinnerte Fernandes in zwei seiner in portugiesischer Sprache verfassten Bücher an Keynes‘ „Bancor-Plan“, damit er nicht vergessen werde, und befasste sich in weiteren Publikationen auch mit der Schuldenkrise in Lateinamerika.
Als ihr Mann Otto 1985 verstarb, blieb Elena Schmauß zunächst noch in Brasilien, reiste aber einmal im Jahr nach Deutschland, um unter anderem an der eingangs erwähnten Tagung des „Seminars für freiheitliche Ordnung“ im Herbst 1989 in Bad Boll teilzunehmen. Mein Vortrag über „Silvio Gesell und Rudolf Steiner“ und auch die dort gezeigte, zwei Jahre zuvor anlässlich von Gesells 125. Geburtstag in seinem Geburtsort St. Vith/Belgien entstandene Ausstellung über das Leben und Werk Gesells beeindruckten Elena Schmauß sehr. Sie fasste Vertrauen zu mir und als sie hörte, dass ich gerade die ersten vier der auf 18 Bände angelegten Ausgabe von Gesells „Gesammelten Werken“ auf der Basis von Spenden herausgegeben hatte und mit diesem Projekt noch einen langen Weg vor mir hatte, bat sie mich gegen Ende der Tagung, mir bei unserem Abschied noch etwas Zeit für ein Vier-Augen-Gespräch zu nehmen.
Zu meinem Erstaunen überreichte mir Elena Schmauß einen Briefumschlag mit einem Scheck über 5.000 DM. „Verwenden Sie das Geld bitte für die Druckkosten des nächsten Bandes von Gesells Werken.“ Danach reiste sie ab nach Leverkusen, wo sie noch einen Besuch bei früheren Bekannten machen wollte. Und als sie 14 Tage später nach Brasilien zurückkehrte, brachte mir die Post zu meiner erneuten Überraschung einen Brief mit einem zweiten Scheck über nochmals 5.000 DM. Ich konnte dieses Glück kaum fassen. Mit diesen beiden ungewohnt großen Spenden war schon die Finanzierung der Druckkosten von Band 5 gesichert. Und da unterdessen noch weitere kleinere und mittlere Spenden von anderen Förderern eingingen, kam auch die Finanzierbarkeit weiterer Bände in Reichweite. Und je mehr Bände erschienen, desto mehr wurde der Zufluss weiterer Spenden zu einem Selbstläufer, bis schließlich 1997 der Band 18 erscheinen und die ganze Edition im Jahr 2000 mit dem Registerband abgeschlossen werden konnte. Alles in allem hat Elena Schmauß mehr als ein Drittel der Gesamtkosten dieses Projekts getragen, vielleicht sogar annähernd die Hälfte. Ihr verdanken wir also zu einem sehr großen Teil, dass wir dieses rund zehnjährige Projekt zu einem guten Ende bringen konnten.
In den Jahren 1991 und 1995 nahm Elena Schmauß an den großen Tagungen der internationalen „Initiative für Natürliche Wirtschaftsordnung“ in Konstanz am Bodensee und in Bern (Schweiz) teil. Dort lernte sie Helmut und Barbara Creutz sowie Margrit und Declan Kennedy kennen, woraus sich langjährige persönliche Freundschaften entwickelten. Im Sommer 1998 verkaufte Elena Schmauß ihr Haus in Teresópolis zu einem sehr günstigen Preis an einen anthroposophischen Arzt, dem sie für die Entdeckung und erfolg-reiche Behandlung eines Myoms dankbar war. Mit dem Verkaufserlös förderte sie ein nahe gelegenes anthroposophisches Krankenhaus und übernahm außerdem eine langjährige Patenschaft für ein brasilianisches Mädchen, um ihr eine gute Ausbildung zu ermöglichen.
Endgültig von Brasilien nach Deutschland zurückgekehrt, wurde Elena Schmauß nunmehr eine Wahl-Münchenerin und fand neue Freundeskreise. Mit Inge Ammon, die eine Münchener Gruppe der „Christen für gerechte Wirtschaftsordnung“ (CGW) leitete, und anderen besuchte sie Kulturveranstaltungen und nahm noch im hohen Alter Jahr für Jahr an den Demonstrationen gegen die Münchener Sicherheitskonferenzen teil. Neue Freunde fand sie auch im Münchener Zweig der „Anthroposophischen Gesellschaft“ und in der „Christengemeinschaft“ in München-West. Diese beiden Organisationen unterstützte sie großzügig und ermöglichte einer jungen Frau das Studium am Priesterseminar.
Auch gegenüber unserer „Stiftung für Reform der Geld- und Bodenreform“ erwies sich Elena Schmauß weiterhin als großzügige Förderin, indem sie noch zweimal jeweils 100.000 DM spendete und der Stiftung sogar ihre Münchener Wohnung im Voraus vermachte, wobei sie sich ein unbefristetes und unentgeltliches Wohnrecht vorbehielt. Als ihr im Alter von etwa 100 Jahren nach einem Sturz und Knochenbrüchen das Alleinleben in ihrer Wohnung allzu beschwerlich wurde, ging sie in eine Münchener Senioreneinrichtung des Deutschen Roten Kreuzes, wo sie sehr gut umsorgt wurde. Dennoch nahmen bei Elena Schmauß verdrießliche Stimmungen zu, weil sie gern hätte Abschied von der Erde nehmen wollen und doch noch während mehrerer Jahre an vielen Morgenden enttäuscht wieder erwachte. Diese Verstimmungen wirkten sich leider auch auf unsere persönlichen Freundschaften aus, was aber unsere große Dankbarkeit ihr gegenüber nicht schmälerte. Und gegen Ende ihres Lebens war sie schließlich wieder milder und versöhnlicher gestimmt.
Die „Stiftung für Reform der Geld und Bodenordnung“ hätte ihre Tätigkeiten schon vor vielen Jahren einstellen müssen, wenn Elena Schmauß ihr nicht um das Jahr 2000 die beiden großen Spenden zugewendet hätte und wenn - als diese Spenden für unsere Tätigkeiten ausgegeben waren und nur noch wenige andere Spenden eingingen - der kürzlich ebenfalls verstorbene 1. Vorsitzende Fritz Andres es vor einigen Jahren nicht im ‚Vorgriff‘ auf einen späteren Erlös aus dem Verkauf der Münchener Wohnung mit einem zinslosen Kredit ermöglicht hätte, ihre Tätigkeiten aufrechtzuerhalten. Beiden sind wir von Herzen dankbar für ihre großzügige Unterstützung und für die verbleibenden finanziellen Reserven, von denen die Stiftung noch bis auf Weiteres wird zehren können, um insbesondere ihre Internetseiten zu erhalten und weiter auszubauen und um das „Archiv für Geld- und Bodenreform“ dauerhaft zu sichern.
Werner Onken